Der kranke Aar
Am dürren Baum, im fetten WiesengrasEin Stier behaglich wiederkäut' den Fraß;
Auf niederm Ast ein wunder Adler saß,
Ein kranker Aar mit gebrochnen Schwingen.
"Steig auf, mein Vogel, in die blaue Luft,
Ich schau dir nach aus meinem Kräuterduft." -
"Weh, weh, umsonst die Sonne ruft
Den kranken Aar mit gebrochnen Schwingen!"
"O Vogel, warst so stolz und freventlich
Und wolltest keine Fessel ewiglich!" -
"Weh, weh, zu viele über mich,
Und Adler all, - brachen mir die Schwingen!"
"So flattre in dein Nest, vom Aste fort,
Dein Ächzen schier die Kräuter mir verdorrt." -
"Weh, weh, kein Nest hab' ich hinfort,
Verbannter Aar mit gebrochnen Schwingen!"
"O Vogel, wärst du eine Henne doch,
Dein Nestchen hättest du im Ofenloch." -
"Weh, weh, viel lieber ein Adler noch,
Viel lieber ein Aar mit gebrochenen Schwingen!"
Text: Annette von Droste-Hülshoff - Lizenz: Public Domain