Menü

www.solars.de → Kunst und Literatur → Gedichte → Meyer, Conrad Ferdinand

Die gefesselten Musen

Es herrscht' ein König irgendwo
In Dacien oder Thracien,
Den suchten einst die Musen heim,
Die Musen mit den Grazien.

Stat milden Nektars, Rebenblut
Geruhten sie zu nippen,
Die Seele des Barbaren hing
An ihren sel'gen Lippen.

Erst sang ein jedes Himmelskind
Im Tone, der ihm eigen,
Dann schritt der ganze Chor im Takt
Und trat den blühnden Reigen.

Der König klatschte: "Morgen will
Ich wieder euch bestaunen!"
Die Musen schüttelten das Haupt:
"Das hangt an unsern Launen."

"An euren Launen?..." Der Despot
Begann zu schmähn und lästern.
"Ihr Knechte," schrie er, "Fesseln her!"
Und fesselte die Schwestern.

Der König wacht', um Mitternacht
Vernahm er leises Schreiten,
Geflüster: "Seid ihr alle da?"
Und Schüttern zarter Saiten.

Er fuhr empor. "Den hellen Chor
Ergreift, getreue Wächter!"
Die Schergen griffen in die Luft,
Und silbern klang Gelächter.

Am Morgen war der Kerker leer,
Der Reigen über die Grenze -
Drin hingen statt der Ketten schwer
Zerrißne Blumenkränze.
Text: Conrad Ferdinand Meyer - Lizenz: Public Domain