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Die wohlriechende Kerze

Nacht war's. Vor mir die Kerze stand,
Die mir die Freundin übersandt.
Das Wachs, aus welchem sie gegossen,
War vom Hymettus selbst entsprossen,
Auch hatte Ambra drein gebannt
Die holde künstlerische Hand,
Und nie genoss'ner fremder Duft
Durchsättigte des Zimmers Luft.

Die Wimpern fielen. Das Arom
Verwandelte in einen Dom
Dem Dämmernden das kleine Zimmer.
Ich sah im grauen Mythenschimmer
Aus meiner Phantasien Schacht
Aufsteigen jene alte Pracht,
Davon das Echo, wie Gebet,
Um ausgegrab'ne Tempel weht.

Durch des Euxinus Brandung klang
Der Argonauten Goldvließsang,
Und unter aller Furien Flammen
Brach ächzend Ilium zusammen;
Dafür erstand, vollendet schön,
Athen mit seinen Marmorhöhn,
Mit seiner bronz'nen Götter Heer
Und mit dem Himmel des Homer!

Dem Lächeln der Laidion
Entschöpft Gesang Anakreon;
Es rieselt durch Pindars Lieder
Herzblut aus Heldenbrüsten nieder;
Und während Sophokles der Nacht
Des Ödipus noch Licht entfacht,
Raubt Äschylus zum zweitenmal
Den Blitz für des Prometheus Qual.

Staub wirbelt auf. Der Diskus fliegt,
Sieh, wie sich jener Jüngling biegt!
Es küßt Vollendung diese Glieder,
Da er sich lächelnd neigt hernieder.
"Welch eine Form! Ist es ein Gott?"
Doch übermüt'ger heller Spott
Umschallt den Fragenden im Chor, -
Da ein noch Schön'rer tritt hervor.

Staub wirbelt auf. Philippus naht:
Meineid sein Wort, Fluch seine Tat!
Wo, Vater Zeus, sind deine Blitze?
Ach, von Athenens Rednersitze
Wie Götterröcheln hallte es
Im Donner des Demosthenes, -
Verhallte es ob Ägeus Meer,
Und der Olymp brach drüber her.

So lagst du, schimmernd Griechenland,
Geschleift in Chäronäas Sand,
Du Hüterin der Schönheitsflamme,
Der Menschheit und der Freiheit Amme:
Und noch aus deinem Schutte wand
Des Römers Welterobrerhand
Für seine Stirne erznen Glanz
Der Grazie weichen Rosenkranz.

Doch du bliebst tot. Was sollte dir
Erborgten Lebens Flitterzier?
Dem Herrlichen ist nur gegeben
Vollkommner Tod, vollkommnes Leben!
Aus deiner Marmortrümmer Schoß
Rang dunkel sich der Lorbeer los,
Der ist zur Grabwacht dir bestellt,
Und opfernd liegt daran die Welt!
Text: Udo Brachvogel - Lizenz: Public Domain